ALPIN-Tourenbuch

Hochtour: Matterhorn

"Zermatt – Endstation, bitte alles aussteigen." Der Rucksack ist schon geschultert. Ein Blick zurück – bloß nichts vergessen. Schon zigmal bin ich hier aus dem Zug gestiegen und ich weiß genau, was mich außerhalb des Bahnhofs als Erstes erwartet: der Blick aufs Matterhorn. Und trotzdem erschrickt man jedes Mal, wenn es dann vor einem steht, das "Horu".

Hochtour: Matterhorn
Wahrzeichen der Schweiz: Seine Eleganz macht das Matterhorn unverwechselbar.
Wahrzeichen der Schweiz: Seine Eleganz macht das Matterhorn unverwechselbar.

Unser Matterhorntag beginnt mit einem ausgiebigen Frühstück – in Zermatt. Ein ungewöhnliches Gefühl, wenn man am gleichen Tag noch auf dem Gipfel stehen will. Heute ist aber alles ein bisschen anders und das Erreichen des Gipfels auch nicht das einzige Ziel. Weil Klaus ein paar außergewöhnliche Bilder mit ins Tal bringen will, ist die Gipfelankunft erst kurz vor Sonnenuntergang geplant. Bergführeraspirant Daniel und Martina vervollständigen unsere Gruppe. Zur Fotogalerie Tourenbuch Matterhorn Es ist bereits Anfang September, der ganz große Andrang ist schon etwas abgeflaut und sowohl die günstigen Verhältnisse als auch das klare Herbstwetter kommen unserem Vorhaben entgegen. Mit großer Vorfreude geht’s zusammen mit einem Strom von Tagestouristen zum Fuß des Hörnligrats.

An so mancher Passage am Hörnligrat erleichtern fixierte Taue das Fortkommen.
An so mancher Passage am Hörnligrat erleichtern fixierte Taue das Fortkommen.

Dabei steht einem ständig dieser riesige Zacken vor Augen. Die Anstiegsroute ist schon lange sichtbar und sieht so imposant aus, dass erste Zweifel aufkommen, ob die im Führer veranschlagten fünf Stunden für den Aufstieg wirklich reichen.

Gegen Mittag erreichen wir die Hörnlihütte. Unsere Absicht wenig später weiter Richtung Gipfel zu ziehen, löst Erstaunen und bei manchem auch Kopfschütteln aus. Spöttische Bemerkungen der Bergführerkollegen lassen sich nicht vermeiden.

Wer aufs Matterhorn will, bricht kurz nach vier Uhr morgens auf, damit er spätestens im Verlauf des Nachmittags wieder zurück auf der Hütte ist. Abweichungen von diesem Idealszenario sind aber alles andere als selten.

Am Hörnligrat treffen die unterschiedlichsten Bergsteigerschulen aufeinander. Während die Zermatter Führer das Handwerk an ihrem Berg perfektioniert haben, lassen sich auch japanische Zehnerseilschaften beobachten, denen kaum bewusst ist, auf welches Wagnis sie sich einlassen. Zur Fotogalerie Tourenbuch Matterhorn Eine kurze Unterhaltung mit dem Hüttenwart bestätigt, dass die Bedingungen für unser Vorhaben stimmen. Die Gefahr, in ein Abendgewitter zu kommen, lässt sich heute ausschließen und für den Abstieg in der Dunkelheit sind wir gut vorbereitet. Auch überforderte Bergsteiger haben wir nicht zu befürchten. Unter solchen Voraussetzungen lassen sich bewährte Traditionen auch mal auf den Kopf stellen.

Spätestens am letzten Steilaufschwung des Hörnligrates wird auch bei guten Verhältnissen das Ambiente der Tour ernsthafter.
Spätestens am letzten Steilaufschwung des Hörnligrates wird auch bei guten Verhältnissen das Ambiente der Tour ernsthafter.

Ideale Perspektive neben der idealen Route

Kurz nach Mittag ziehen wir mit leichten Herzen und nicht viel schwereren Rucksäcken los – am Hörnligrat braucht es mehr Können in der Seilhandhabung als Material. Hinter der Hütte erinnern Gedenktafeln, dass nicht alle Besteigungen, die mit Euphorie in Angriff genommen wurden, auch glücklich endeten.

Nur noch wenige Meter bis zum Gipfel.
Nur noch wenige Meter bis zum Gipfel.

An einer ersten kurzen Kletterstelle werden wir gleich richtig warm. Danach ist der Weg im losen Gestein nicht ganz einfach zu finden. Pfadspuren gibt es in fast alle Richtungen. Gleich zu Beginn der einzig Richtigen zu folgen, um nicht in einer Sackgasse zu landen, ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Tour. Schon bald habe ich mit Martina einen angenehmen Steigrhythmus gefunden.

Klaus’ fotografische Ambitionen stellen aber auch für mich als Bergführer eine besondere Herausforderung dar. Für die ideale Perspektive steigen wir immer wieder mal etwas neben der idealen Route. Gleichzeitig muss ich stets die Zeit im Auge behalten, damit wir auf jeden Fall rechtzeitig auf dem Gipfel sind.

Wie an einem Schiffstau hinauf...

Nach rund einer Stunde betreten wir zum ersten Mal den Grat. Hier trifft man auch auf die ersten Fixseile, die vor allem der Sicherheit dienen sollen, andererseits den Berg aber auch verkleinern und ihn so besser vermarkten lassen. Trotz der zwiespältigen Meinung über ihren Sinn stellen die Seile im Moment eine willkommene Hilfe dar. Wie an einem Schiffstau hangeln wir uns daran hinauf und gewinnen mit kräftigem Einsatz der Oberarme rasch an Höhe.

Der erste Gipfeljubel am Matterhorn.
Der erste Gipfeljubel am Matterhorn.

Leichte und schwerere Passagen wechseln sich nun ab. Das Seil lasse ich zur Sicherung stets um irgendeinen Zacken laufen. In einem Quergang zum "Faulen Eck", wo Felszacken zum Sichern fehlen, sind Eisenstifte angebracht, die wir zur Sicherung benutzen. Routenabschnitte mit eigenen Namen sind immer ein Zeichen, dass man sich auf einer klassischen Route bewegt. Bezeichnungen wie "Faules Eck", "Eselstritt", "Gebiss" oder "Steinschlag" lassen auch Schlüsse auf die Felsqualität zu.

Da der Steinschlag aber vor allem von anderen Seilschaften ausgelöst wird, ist diese Gefahr heute Nachmittag weniger groß. Nur ein paar verspätete Alpinisten mit kuriosen Seiltechniken sind noch am Absteigen.

Ein schwarzes Dreieck auf dem roten Monte-Rosa-Gletscher

Bei den Unteren Moseley-Platten wird die Kletterei für kurze Zeit etwas schwieriger. Eine typische Stelle am Matterhorn, die bei den derzeit guten Verhältnissen kaum Probleme bietet, bei Nässe oder Schnee aber schnell heikel wird.

Kurz darauf erreichen wir die Solvayhütte. Unsere Rucksäcke werden um Schlafsack und Abendessen erleichtert und nach einer Stärkung brechen wir auf Richtung Gipfel. Zur Fotogalerie Tourenbuch Matterhorn An den Oberen Moseley-Platten erinnert ein zu einem Schweineschwanz geformter Eisenhaken an die Hundehaken vor den Schweizer Einkaufszentren. Statt der Hundeleine lege ich das Seil ein und sichere Martina herauf. Während die Sonne immer tiefer sinkt und Zermatt unter uns immer kleiner wird, nähern wir uns dem letzten Steilaufschwung, wo uns Schnee und Eis erwarten.

Mystisch schön: Sonnenuntergang am Matterhorn
Mystisch schön: Sonnenuntergang am Matterhorn

Zeit, um die Steigeisen anzuschnallen. Das Ambiente der Tour wird ernsthafter. Die Kletterstellen sind ausgesetzter, die Luft dünner und das Steigen anstrengender. Mit den Steigeisen turnen wir über Felstürme, die durch die vielen Begehungen fast rund poliert sind. Noch einmal helfen Fixseile über steiles und unangenehm vereistes Gelände, bis der Grat auf den letzten Metern flacher wird.

Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir den Gipfel. Wir sind ganz alleine, niemand stört die Ruhe. Eine einmalig schöne Abendstimmung lässt die nächste halbe Stunde zu einem unvergesslichen Gipfelerlebnis werden. Klaus fotografiert, wir traversieren auch noch zum italienischen Gipfel. Der Schatten des Matterhorns wirft ein riesiges schwarzes Dreieck auf den rot leuchtenden Monte-Rosa-Gletscher. Langsam erreicht der Schatten der Nacht auch die höchsten Bergspitzen und kaum ist die Sonne weg, wird es dunkel und eisig kalt.

Eine gigantische Ikone

Es ist kurz nach acht Uhr abends, wir befinden uns auf 4477 Meter und haben noch gut zwei Stunden Abstieg vor uns. Eine defekte Stirnlampe führt uns in dieser mondlosen Nacht vor Augen, wie sehr man vom Material abhängig ist. Im Schein von drei kleinen Lichtkegeln suchen wir den Weg zurück zur Solvayhütte.

In dieser spartanisch eingerichteten Notunterkunft dürfen wir heute nur dank einer Spezialbewilligung übernachten. Auf dem mitgebrachten Kocher bereiten wir uns ein warmes Essen zu und feiern mit einer Tasse Instant-Cappuccino unseren Gipfel.

Als uns am nächsten Tag die ersten Sonnenstrahlen wecken, keuchen bereits einige Seilschaften an der Hütte vorbei. Wir sind froh, den Aufstieg schon hinter uns gebracht zu haben und lassen den großen Ansturm von Bergsteigern an uns vorbeigehen.

Auf der Solvayhütte.
Auf der Solvayhütte.

Nach einem gemütlichen Frühstück in der Morgensonne konzentrieren wir uns noch einmal voll auf den Abstieg. Martina geht nun voraus, während ich sie von oben sichere. Bei trockenen Felsen gibt es am Hörnligrat keine Stelle, an der es sich lohnt, abzuseilen. Hunderte von Schlingen lassen jedoch darauf schließen, dass nicht alle dieser Meinung sind.

Je weiter wir uns vom Gipfel entfernen, desto mächtiger erscheint die Gestalt des Berges. Während unserer einsamen Kletterei am Grat spielte die Form des Berges keine Rolle. Zurück in Zermatt ist das Matterhorn vor allem wieder eine gigantische Ikone, die sich gar nicht so recht mit dem vergangenen Erlebnis verbinden lässt.

Text: Matthias Affolter/Thomas Theurillat

Fotos: Klaus Fengler