ALPIN-Tourenbuch

Hochtour: Habicht

Es gibt Berge, die kennt jeder – und doch weiß kaum einer ihren Namen. So einer ist der Habicht. Wie ein Torwächter thront er jenseits der Europabrücke über dem Stubaital. Ein Berg mit zwei Gesichtern: einem bezaubernden Wander-Antlitz und einer kalten Schulter für Eisfreaks.

Hochtour: Habicht
Hoch über der Europabrücke der Brenner-Autobahn thront der Habicht wie ein Torwächter für das Stubaital.
Hoch über der Europabrücke der Brenner-Autobahn thront der Habicht wie ein Torwächter für das Stubaital.

Der Lois ist ein glücklicher Mensch, das sieht man ihm auf den ersten Blick an. Er ist Herr über sieben Kühe, ein gutes Dutzend Geißen und einen ganzen Haufen Schafe – droben auf der Mischbachalm. Den Job macht er seit 23 Sommern: treiben, melken, kasen, buttern und vor allem Topfen machen. Zwischendrin, wenn die Zeit es zulässt, geht er immer mal wieder auf den Habicht – seinen Hausberg und seine Lieblingstour. Früher öfter, heute mit 55 eher seltener. Trotzdem weiß er um die Verhältnisse am Mischbachferner genau Bescheid.

Der Hängegletscher liegt eingebettet über der Äußeren Mischbachgrube. In zwei Kaskaden fließt sein zäher Strom über eine Eisnase, den Habichtsschnabel, und eine steile Zunge herab. Daneben gibt es den Anstieg über die Alte Nordflanke, mit maximal 45 Grad Neigung am Ausstieg freilich ein bisschen flacher, aber nichtsdestoweniger eine spannende Gletschertour.

Vor seiner Alm erklärt uns der Lois den Zustieg im letzten Licht des Tages. Rauf, rauf, rauf, immer hübsch die begrünten Hänge rauf, dann rum ums Eck und schon stehst du vor der Zunge. Wenn das alles so einfach wäre, morgens um vier in stockdunkler Nacht. Ein kleines Bier – denn der Lois hat Durst, nachdem er heute den Graukas bei sengender Hitze ins Tal getragen hat. Und wir nicht minder nach dem trotz Abendkühle schweißtreibenden, weil supersteilen Aufstieg von Gasteig herauf. Hier oben ist das Leben noch Handarbeit und das Bergsteigen ursprünglich wie zu Großvaters Zeiten.

In den ersten Sonnenstrahlen erglühen die begehrten Gipfel des Alpeiner Kamms um die Neue Regensburger und die Franz-Senn-Hütte
In den ersten Sonnenstrahlen erglühen die begehrten Gipfel des Alpeiner Kamms um die Neue Regensburger und die Franz-Senn-Hütte

Für die Nacht hast du die Wahl, zwischen einer Bettstatt im Heu – mit dem Gebimmel aus dem darunter liegenden Stall zum Einschlafen – oder dem Schlafsack unter dem Sternenzelt. Als Heuschnupfengeplagte Allergiker stellt sich uns diese Frage nicht. Für die Isomatten ist im Almgärtchen schnell ein Platz gefunden. Das Seil wird zum Kopfkissen umfunktioniert, ab in die Penntüte und schon träumen wir dem Habicht entgegen.

Blankeis an der Zunge des Mischbachferners - im Juli keine Seltenheit.
Blankeis an der Zunge des Mischbachferners - im Juli keine Seltenheit.

11. Juli 2005, 3.30 Uhr: Aus dem Handy kräht der Weck-Gockel – für jede Lebenslage den passenden Klingelton. Das Ding liegt auch noch direkt unter meinem Ohr, so dass der Tag gleich mit einer Adrenalin- Ausschüttung beginnt. Nach einem Schluck Wasser trotten wir noch reichlich verschlafen über den Moränenschotter. Wo ist bloß die Markierung? Egal, dann eben weglos über die groben Blöcke. Dazwischen verdecken üppige Almrosenbüsche tückische Löcher, Stolperfallen allererster Güte. Weiter oben kündet das erste Licht einen strahlenden Sommertag an. Lauer Südwind weht uns um die Nase. Überhaupt – ist es nicht viel zu warm für eine solche Tour? Wäre ein ausgiebiges Bad daheim im See nicht viel passender für diese Jahreszeit gewesen – mitten im Juli ist es eigentlich viel zu heiß zum Bergsteigen? Aber jetzt sind wir hier – und bleiben es auch.

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Kaum sind wir an der Gletscherzunge angelangt, zerreißt ein lautes Krachen die morgendliche Stille. Über das blanke Eisfeld kommt ein tischgroßer Brocken herabgesaust, gleitet über einen Vorsprung, schlägt ein. Eissplitter spritzen in alle Richtungen davon. Ein erster Warnschuss aus der oberen Etage. Es ist 6.00 Uhr morgens und schon gurgelt das Wasser unter und über das Eis. Schmelzwasserbächlein sprudeln über das graue Eis der Gletscherzunge herab. Mit den Frontalzacken krabbeln wir über die steile Passage hinauf. Die Handschuhe sind im Nu waschelnass.

Auf Umwegen: Ausstieg über ein Urgesteinsgrätchen zum Gipfelkamm.
Auf Umwegen: Ausstieg über ein Urgesteinsgrätchen zum Gipfelkamm.

Querfeuer aus dem Habichtsschnabel. Über den Steilaufschwung, aber vor allem rechts und links davon, poltern schon wieder ganze Steinsalven herab. Oberhalb ist ein flaches Gletscherbecken, das wohl genug Gestein mitgeführt hat, um allzu dreiste Sommergäste abzuwimmeln. Wir fällen eine Entscheidung zu Gunsten der Sicherheit – nichts wird’s heute mit des Habichts steilem Schnabel, wir weichen aus in die flachere Alte Nordflanke. Hier ist dank der geringeren Neigung noch alles ruhig. Wir legen die Spur im Zickzack zwischen den Spalten hindurch, ein spannendes und abwechslungsreiches Vergnügen, nie wirklich steil, aber auch nie zu flach.

Indes ist von dem einst makellos weißen Ausstiegswändchen nicht viel geblieben. Einzig ein fragiler Eisschlauch von einem halben bis zwei Meter Breite, glasiert mit Nassschnee, windet sich durch die brüchige Flanke nach oben. Links und rechts davon einsturzbereiter Schotter der gröberen Sorte. Wir verzichten gerne und kraxeln weiter rechts über ein herrliches Urgesteinsgrätchen auf den Gipfelkamm. Es ist 8.30 Uhr – eigentlich noch früh am Morgen und doch ist schon so viel passiert. Die ersten Kollegen werden gerade im Büro eintreffen, unser Tag scheint fast gelaufen. Der Gipfel gehört uns um diese zeitige Stunde noch ganz allein.

Ringsum nur samtig blauer Himmel über einem Panorama, das von der Marmolada bis zur Zugspitze reicht: die bleichen Gräten der Karwendelkämme, der Olperer mit seiner Eishaube, Dolomiten im Dunst, wallende Eismäntel um Zuckerhütl und Wildspitze. Eine Gipfelzigarette, ein Apfel, dann machen wir uns an den Abstieg. Die Zeit drängt, denn irgendwie müssen wir ja wieder die steinschlaggefährdete Gletscherzunge passieren. Der Berg gehört dir eben erst, wenn du wieder unten bist. Also nichts wie los, erst vorsichtig über die Felsen abgeklettert, dann im Laufschritt über den Gletscher hinunter.

Der Habicht von Nordosten: Über dem unteren Nebelfetzen ist deutlich der Habichtsschnabel auszumachen.
Der Habicht von Nordosten: Über dem unteren Nebelfetzen ist deutlich der Habichtsschnabel auszumachen.

Ab und zu stecken wir fest: knietief, oberschenkeltief, in einem flachen Becken einmal fast hüfttief. Die Sonne hat ganze Arbeit geleistet. Beim Abstieg über die Zunge fürchte ich mich seit langer Zeit das erste Mal wieder richtig in den Bergen: Das Leben ist jetzt ein Pfeifen, es poltert ringsum in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen. Wir sind einfach zur falschen Zeit am falschen Fleck. Weiter unten gerät das Toteis in Bewegung, bei jedem Schritt rutscht ein Quadratmeter Geröll mit. Jetzt bloß nichts mehr falsch machen. Trotz aller Eile schaffen wir den Abstieg mit anständigen Haltungsnoten – und als wir eine Viertelstunde später auf dem begrünten Moränenrücken das Equipment verstauen, fällt mir ein Stein vom Herzen. Das nächste Wochenende werde ich mit den Kindern am See verbringen – großes Ehrenwort.

PS: Wer nun denkt, der Habicht sei ein rechter „Scheißberg“, der irrt gewaltig. Anfang Juni 2006 haben wir den Lois und seinen Habicht noch einmal besucht. Diesmal waren die Ski im Gepäck: erst am Rucksack bis zur Alm, dann an den Füßen, am Mischbachferner wieder streckenweise am Rücken und schließlich in einer rauschenden Abfahrt wieder da, wo sie hingehören. Wieder waren wir allein am Gipfel. Diesmal bei besten Verhältnissen mit hartem Firn im Aufstieg und Butter-Sulz in der Abfahrt. Es geht eben nichts über eine sorgfältige Tourenplanung.

Text: Robert Demmel